Wie wir lehren und lernen werden?!
Wo stehen wir und wohin geht die Reise – so könnte man sich heute, nach 50 Jahren Hochschule Bochum, fragen. Die Hochschule ist immer im Wandel begriffen gewesen.
Sie ist in der Kritik und Begriffe wie „Bildung neu denken“ und „Digitalisierung“ spielen dabei wechselnde Rollen zwischen Begleiter und Treiber. Dabei ist die Hochschule eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste, gesellschaftliche Institution Europas – auf jeden Fall eine europäische Institution par excellence.
Ihr Ideal kann mit dem lat. Begriff Universitas (eigentlich universitas magistrorum et scholarium) beschrieben werden: Als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die gemeinsamen Grundzielen verschrieben ist, die neues und auch altes Wissen nicht von oben nach unten weiterreicht, sondern Erkenntnisse immer wieder neu diskutiert und bestätigt – oder verwirft –, dies alles ungeachtet der Reaktion von außen. Ein Ideal, das niemals vollständig erreicht wurde und häufig genug auch scheiterte.
Das Ideal der Universitas ist durch die jüngere Geschichte der Industrialisierung, und ihrer Folgen – auch für die höheren Bildungseinrichtungen –, sich von akademischen Institutionen im Sinne der Universitas hin zu Masseneinrichtungen der Ausbildung zu wandeln, unter Druck geraten. Mehr und mehr steht eine Abkehr von einem Ideal der ‚Bildung als Selbstbildung’ hin zu einer Vorstellung von ‚Bildung als Ergebnis des Lehrens’, orientiert an den Qualifikationszielen eines Studienplans im Vordergrund.¹[A1] Wenn Hochschulbildung aber im Wesentlichen Selbstbildung ist, also vom Subjekt aus gedacht wird, gibt es keine ‚ideale’ Bildung im Sinne einer fest bestimmbaren, standardisierten besten Bildung, die für alle gleich gilt. Bildung in diesem Verständnis ist weitaus komplexer, individueller und ganzheitlicher und nicht zu verwechseln mit dem Anforderungsprofil einer neu zu besetzenden Arbeitsstelle.
In der jüngsten Diskussion gewinnt der Begriff der Zukunftskompetenzen – oder auch Future Skills – an Bedeutung. Future Skills hat in der öffentlichen Diskussion über Hochschulbildungskonzepte mittlerweile zu einem entscheidenden Wandel beigetragen, den wir hier als Future Skills Turn bezeichnen. Als Begriff hat Future Skills einen Einfluss gewonnen, wie er in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Begriffen wie Chancengleichheit oder Wissenschaftsorientierung ausgegangen ist. Solche Leitmarken treten nicht als exakt zugeschnittene und empirisch operationalisierte Konzepte auf, sondern viel eher als begriffliche Verdichtungen breit gefächerter Bündel von Argumenten und Zielsetzungen.
Ausgangspunkt für die enorme Karriere des Konzeptes der Future Skills ist die Diagnose, dass derzeitige Konzepte der Hochschulbildung den drängenden Herausforderungen unserer Gesellschaften keine überzeugenden Zukunftskonzepte entgegenstellen. Weder der nachhaltigen Gestaltung unserer Umwelt noch den damit zusammenhängenden sozialen oder ökonomischen. Während die gesellschaftlichen Problemlagen von einem sich stetig beschleunigenden Globalisierungsprozess und einem immer schneller werdenden digitalen Fortschritt verschärft werden, sind genau dieses auch die Kräfte der Ermöglichung für eine Vielzahl neuer Optionen für die menschliche Entwicklung. In dieser Situation digitaler Beschleunigung ist das kennzeichnende Merkmal das der Unsicherheit und die unausweichliche Notwendigkeit die der Gestaltungsverantwortung. Denn die Zukunft ist unvorhersehbar und wir können sie nicht prognostizieren, müssen aber bereit sein, sie zu gestalten.
Kinder, die im nächsten Jahr in die Grundschulen kommen, werden in zehn bis zwölf Jahren in eine Berufsausbildung oder ein Studium gehen und in fünfzehn Jahren diejenigen sein, die als junge Berufstätige beginnen, unsere Gesellschaft zu prägen. Über diese Zukunft wissen wir wenig. Im Jahr 2060-2065 werden sie aller Voraussicht nach ihre Erwerbstätigkeit beenden. Über diese Zukunft wissen wir nichts.
Unsere Schulen müssen sie auf Jobs vorbereiten, die es heute noch nicht gibt, auf Technologien, Apps und Anwendungen, die heute noch nicht erfunden worden sind, darauf, in einer Gesellschaft zu leben, deren Strukturen wir heute nicht absehen können, und darauf, mit Herausforderungen umzugehen, die heute noch nicht erkennbar sind. Es ist unser aller gemeinsame Verantwortung, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen und Wege zu finden, mit dieser ungewissen Zukunft umzugehen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als den Erhalt unseres Planeten und unserer Lebensgrundlagen.
Das Lösen der gesellschaftlichen Problemlagen, wie sie etwa mit dem Klimawandel verbunden sind, der Herausforderungen der zukünftig noch zunehmenden Migration, der Konflikte, die durch populistische Gesellschafts- und Politikentwürfe entstehen, und der damit verbundene Frage nach der Zukunft der Demokratie – all dies erfordert die Fähigkeit, neue und bisher unbekannte Ansätze zu entwickeln, neue Wege zu gehen und bislang Unverbundenes auf neue Weise miteinander in Beziehung zu setzen. In der Bildung und Wissenschaft wird dies nur dann gelingen, wenn wir im besten Sinne inter- und transdisziplinär daran arbeiten, die Lösungsbeiträge einer jeden Disziplin und Wissenschaft zusammenzutragen, kritisch zu reflektieren und aufeinander zu beziehen.
Hochschulen tun sich dabei schwer – denn sie alle teilen ein gemeinsames Handicap: Die Geschichte der Wissenschaft, Forschung und damit auch der Hochschulbildung ist eine Geschichte der Differenzierung, Spezialisierung und Abgrenzung der Disziplinen – die fast 18.000 Studiengänge, die an deutschen Hochschulen angeboten werden, zeugen davon. Die Institution Hochschule steht vor der Herausforderung, sich selber neu erfinden zu müssen – und das in einer Zeit, in der sie sich in einem enormen Wachstumsprozess befindet und weltweit eine Quote von 70 Prozent Studierenden einer Alterskohorte oder mehr bis ins Jahr 2050 prognostiziert wird. Das ist in etwa so, als müsse man bei einem Autorennen, mitten in der Steilkurve und während eines gefährlichen Überholmanövers die Pilotin oder den Piloten wechseln.
Dabei sollen Future Skills diejenigen Fähigkeiten sein, die es Hochschulabsolventinnen und -absolventen ermöglichen, die Herausforderungen der Zukunft bestmöglich zu meistern. In den Ergebnissen zeigt sich: Um mit den zukünftigen Herausforderungen umzugehen, müssen Studierende Neugier entwickeln, Vorstellungskraft, Visionsfähigkeit, Resilienz und Selbstbewusstsein sowie die Fähigkeit, selbstorganisiert zu handeln. Sie müssen in der Lage sein, die Ideen, die Perspektiven und die Werte anderer zu verstehen und zu respektieren und sie müssen mit Fehlern und Rückschritten umgehen können und gleichzeitig achtsam voranschreiten, auch gegen Schwierigkeiten.
Nachdem in den achtziger und neunziger Jahren die Forschung zu Graduate Attributes im Vordergrund stand, gibt es derzeit eine regelrechte Renaissance an wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema. Das sind zum einen Arbeitsmarktstudien, die sich die Frage stellen, wie die Zukunft der Arbeit aussieht, bei denen Digitalisierung einen großen Einfluss hat. Das sind zweitens Studien der Gesellschaft, die sich die Frage stellen, wie die Gesellschaft im Jahre 2030 oder 2050 aussehen wird.
Das sind Fragen wie: Wird Arbeit weiterhin das sinnstiftende Element in unserem Leben sein? Was sind die Risiken, die Individuen in einer Gesellschaft zu bewältigen haben und was sind Strategien zur Bewältigung selbiger? Auch dabei spielt die digitale Durchdringung der gesamten Privatsphäre eine große Rolle. Und es ergeben sich drittens Fragen in Bezug auf Bildungskonzeptionen, die sich damit auseinandersetzen, wie Studierende auf unvorhersagbare Zukünfte vorbereitet werden können.
Viertens und letztens sind es viele Ansätze, die im Bereich internationaler Organisationen wie der Europäischen Union (EU), der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) oder der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) entstehen, die die Frage stellen, wie Gesellschaften zusammen in einer Weise lernen und leben können, sodass die globalen Herausforderungen angemessen und wirksam bearbeitet werden können. All diese unterschiedlichen Perspektiven, die seit etwa den neunziger Jahren zunehmend stärker diskutiert werden, rücken in den Fokus durch internationale Zusammenarbeit, globale Vernetzung und Digitalisierung. Die Diskussionen schlagen sich in Konzepten wie zum Beispiel den Sustainable Development Goals (SDG) oder anderen, grenzüberschreitenden Bildungsund Gesellschaftsentwürfen nieder.
Im Fazit lässt sich festhalten, dass es eine breite Diskussion über neue Zukunftskompetenzen geben sollte. Hochschulen können sich dabei unter das Leitbild der Transformation und des transformativen Lernens stellen. Schwierig ist dabei sicherlich, dass es neben einer Verankerung in den Kurrikula auch einer geänderten Lehrpraxis bedarf, die das erfahrungsbasierte, forschungsbasierte und kompetenzorientierte Lernen voranstellt und die reine Wissensvermittlung zurücktreten lässt.
Dr. Ulf-Daniel Ehlers, Professor für Bildungsmanagement und Lebenslanges Lernen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg